Samstag, 4. Oktober 2008
Film: Was kommt nach der Schule?
Schauspieler u.a.: Timothy Bottoms, Jeff Bridges, Ellen Burstyn, Ben Johnson, Cybill Sheperd (u.a. Taxi Driver)
Jahr: 1971
Filmvorlage: Larry McMurty: The last picture show. (Novel)
Plot: Das letzte Highschool-Jahr zwischen den Footballsaisons in einer kleinen westtexanischen Stadt. Der melancholische aber sportliche Sonny (T. Bottom) ist die Leitfigur, ohne aber allwissend zu sein. Er geht eine Affaire mit der Frau seines Trainers ein und wird von der sprunghaften, egoistischen Freundin (Cybill Sheperd) seines besten Freundes Warren (Jeff Bridges) verführt, in Oklahoma heiratet und noch am selben Tag wieder sitzenlässt. Wie Zäsuren treffen ihn der Tod des väterlichen Freundes Sammy the Lion (Ben Johnson), dem Poolhall-Besitzer, die Wut des besten Freundes auf den angeblichen Verrat und schließlich der tödlicher Unfall des taubstummen Billys, Sohn von Sam. Sein zum Ende des Films wieder-Freund verabschiedet sich als Soldat von Sonny: "I'll see you in a year when I'm not shot." Der Titel verweist auf die letzte Kinovorstellung, die am Abend vor Warrens Abfahrt nach Korea im örtlichen Kino gegeben wird, dass wegen mangelnder Besucher schließen muss.
Sonny, der als erster Protagonist im Bild erscheint, geht auch als letzter. Offen bleibt, ob er in die Kleinstadt jemals verlassen wird, so wie es der Reihe nach seine Freunde und Bekannten getan haben. Im Film entwickelt sich vor allem Sonny charakterlich nicht weiter: es scheint, dass er mit fast stoischem Wesen die Änderungen seiner Umwelt aufnimmt. Mit seiner melancholischen Art, getragen von traurigen Augen und verschlossenen Gesichtszügen, erträgt er hiobsgleich alle Ereignisse bis zum Tod von Billy.
In Schwarz-Weiß zeichnet der Film die Entwicklung der Protagonisten, die sich nicht auf Liebesprobleme und Zukunftspläne reduzieren lassen sondern vielmehr ein detaillreicheres, entmystifizierendes Bild der frühen 50er in Texas und einer Kleinstadt liefert, die ihre schmutzige Wäsche sehr wohl zu verdecken weiß. Bogdanovich arbeitet mit einer Vielzahl an Schnitten, mit wenig Dialog und umso mehr Gestik und Mimik, die zeitweise eine ganze Bandbreite an Emotionen in wenigen Sekunden abdecken sollen.
Empfehlung: 4/5 Anschauen, schon wegen der an Edward Hopper erinnernden Bilder und Schnitte, der auf das notwendigste reduzierten Darstellung eines tiefgreifenden Lebensabschnittes im Leben junger Menschen.
Wider den verzweifelten Fanatiker!
Oz, Amos 1991 (1987): Black Box. Roman. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Taschenbuch, 341 S.
Amos Oz hat dieses eingängige Buch über die gescheiterte Beziehung zweier Menschen 1987 geschrieben; damit in einer Zeit, die mir von der Erfahrung wie von lokal-historischer Kenntnis fremd ist. Aber es gibt gute Gründe, das Buch zu lesen!
Im Mittelpunkt steht ein international renommierter Gelehrter, Alexander A. Gideon, der mit einem Werk über Fanatismus für Furore sorgte. Gemeinsam mit Ex-Frau Ilana macht er sich in der Form von offenbarenden Briefwechseln daran, die der Flugzeugmechanik entlehnte 'Black Box' ihrer Beziehung zu analysieren. Dabei landen ebenfalls im Briefkasten: der neue Ehemann der letzteren, Michel Sommo, ein arabischstämmiger gläubiger Jude, der gemeinsame Sohn Boas, ein zuerst gewalttätiger, dann sich mit eigenen, starren Moralismus ablehnenden Prinzipien (Arbeiten, Glück im eigenen Leben) versehenden Kommunegründer, aber auch der Rechtsanwalt und Vermögensverwalter Gideons, Manfred Sackheim.
Warum sollte ich ein Buch lesen, das mir auch für meine biographischen Anforderungen nichts mit an die Hand gibt, mich eigentlich gar nicht tangiert? Amos Oz greift zum einen universalistische Themen der Beziehungen zwischen zwei Menschen und ihrem Umfeld, zwischen Glaubensbekenntnissen und Ordnungsvorstellungen, zwischen Generationen auf; aber auch das ganz eigene Problem Israels, dass nämlich mehr Juden in der Diaspora als im gelobten Land an sich leben und die daraus resultierende Spannung um die Erlösunga, die Bedeutung des Landes für die Juden, rückt ins Zentrum des Textes; es ist mit George Steiner ein Buch, dass sich im Grunde um Israel bewegt. Aber auch der Stil ist, wenn nicht innovativ, so doch eingängig, geschrieben in fein verwobenen Briefwechseln, die den LeserInnen durch die Erzählweise genügend Einblick in die Geschichte geben und doch Raum für eigene Mutmaßungen über die Charaktere lassen.
Der Briefwechsel beginnt mit einem Schreiben von Ilana Sommo an ihren ehemaligen und sehr vermögenden Mann Alexander Gideon mit der Bitte um Unterstützung für den gemeinsamen Sohn Boas, der verhaltensauffällig von einer Bildungseinrichtung nach der anderen verwiesen wird. Dabei wird das Schweigen nach sieben Jahren (!) gebrochen, unerhört schnell und unerhört unterwürfig, Ilana bietet sich ihrem ehemaligen Mann halb wiederwillig, halb sehnsüchtig an; eine erotische Spannung wird den Roman weiterhin durchziehen, sie zehrt sich aus der Retrospektive, aus den gegenseiten Vorwürfen und Machtkämpfen. Michel Sommo tritt für Boas ein, bringt ihn zur Ruhe und in einer weiteren Bildungseinrichtung unter, nicht ohne aber von der Moral zu lassen, die bis zum Ende seine Briefe dominiert und auch eben den Widerstand von Alexander Gideon als auch Boas provoziert. Letzterer erkennt den schaffenden Menschen in Michel durchaus an, er verbittet sich lediglich die vielen Predigten.
Der Konflikt zwischen Alexander und Michel ist für mich als politischen Leser der entscheidende. Denn hier steht sich der Autor eine vergleichenden Geschichte des Fanatismus einem bekehrten und nun missionierenden Juden gegenüber, der mit allen Mitteln Ländereien im Westjordanland (u.a. Hebron) von den Arabern aufkauft, um das Großreich Israel wieder herzustellen. Und mit wessen Geld? Mit Alexanders Geld, von ihm erbeten, werden Immobiliengeschäfte angeschoben und zugleich noch Michels politische Karriere, für die er seine bis dahin eher kümmerliche (aber dafür doch glückseligere) Existenz als Französischlehrer aufgibt. Die Überlegungen Gideons lesen sich wie ein Folie für die Handlungen und Denkweisen Michels. Die Grundthese des fiktiven Bestsellers: Menschen hängen aus mangelndem Selbstwertgefühl einer beliebigen Idee an, die sie bis zur eigenen Selbstaufgabe in ihrer Gesellschaft auch um den Preis von Toten und Unterdrückten durchsetzen. Es ist dieser Eifer um die Errettung, der "Erlösungswahn", der die menschliche Spezies zur Auschlöschung treibt (304). Nichts anderes als mangelnde elementare Lebensunfähigkeit wird durch diese Selbstaufgabe, die Beschäftigung mit seinen Angelegenheiten und Eigenheiten überdeckt. Und während Alexander in einem ausführlichen Brief dies gegen Michels fromme Predigten, gegen dessen Moralismus und Mahnung konfrontiert, weist er ihn gleichzeitig auf dessen gemeinsames Kind mit Ilana hin, das viel eher als ein blutbesudelter "verborgener Glorienschein" das Leben lohnt. Und so kehrt erklärt sich auch Boas Betonung der Arbeit (auf dem Grundstück des Vaters Gideon, dass dieser ihm überlässt und wo er eine Kommune gründet) und die Erfüllung des Glücks im eigenen Leben.
Wider dem Fanatismus bleibt vor den aktuellen Ereignissen eine akute Forderung und das Wieder-Erlesen von Amos Oz eine kurzweilige und in diesem Sinne instrumentalisierbare Lektüre. Damit gab mir das Buch wertvolle Denkanstöße als politischen, als ideengeschichtlichen, als theoretischen aber auch als erfahrenden Leser.
Mittwoch, 13. Februar 2008
Frank Westermann: El Negro. Eine verstörende Begegnung (2007)
Frank Westermann eröffnet jedoch noch einen zweiten Lesestrang im Buch: über seine persönlichen Erfahrungen in der Entwicklungsarbeit in Jamaika und Peru aber auch als Journalist in Sierra Leone setzt er sich selbstkritisch mit seiner Rolle als Entwicklungsarbeiter im Konkreten und als Weißer im Allgemeinen auseinander. Abwechselnd fokussieren die Kapitel die Auseinandersetzung und Recherche zu El Negro sowie die Kritik an den Institutionen und Praktiken der Entwicklungshilfe, um schließlich in Südafrika zusammengeführt zu werden. Dorthin folgt der Autor El Negro, der als Angehöriger der Tswana identifiziert wird. Mithilfe des Archäologen David Morris bestimmt Westermann das Gebiet der Herkunft, ohne ihm allerdings seinen Namen zurückgeben zu können.
Das Buch thematisiert auf diese Weise anschaulich die rassistischen Verhältnisse, die sich zwischen Europa und Afrika seit dem 17. Jh. aufspannen. El Negro wird zu einem Symbol, einerseits der unbegrenzten Perversion europäischer Völkerschauen. Dabei ist El Negro ein Repräsentant dieser Praxis der Zurschaustellung und Beschauung als "minderwertige" Wesen, an dem sich die westliche, weiße, europäische Identität gebildet und gefestigt hat. Der Autor stößt bei seiner Recherche außerdem auf die Beispiele etwa der Sara Baartman, die in London und Paris als 'Hottentotten-Venus' bekannt war und schließlich dem akademischen Publikum im frühen 19. Jh. von George Cuvier als Präparat präsentiert wurde. Bis 1906 wurde im New Yorker Zoo ein Angehöriger der Pygmäen im Käfig mit Schimpansen ausgestellt. Diese wahrhaft erschütternden und ekelerregenden Fakten fordern den Lesern konsequent zu einer Stellungnahme heraus, gegenüber den wissenschaftlichen und alltäglichen Rassismen.
El Negro ist aber andererseits auch als Symbol für Afrika und konkret für Land- und Identitätsansprüche in Südafrika instrumentalisiert worden. Während die Überführung 2000 nach Botswana als politischer Sieg für Afrika gefeiert wurde (das Grab sollte ein Nationaldenkmal werden (231)), dient es der Bevölkerungsgruppe Korana als Identitätssymbol, mithilfe dessen Landansprüche gegenüber der südafrikanischen Regierung durchgesetzt werden sollten (220f). Eines werden die Leser schlucken müssen: auch im Fall der Überführung nach Botswana hat das Anthropologische Institut Madrid das letzte Wort: so werden lediglich die Knochen, nicht aber Beigaben und gar die Haut nach Botswana übergeben, was bei der feierlichen Beisetzung Erschütterung aber keinen Protest hervorrief.
Die Kritik an der Entwicklungshilfe wird an mehreren Stellen hervorgehoben. Einerseits kommt der Autor früh zu der Erkenntnis, dass die Entwicklungshilfe nicht einseitig mit westlichen Rezepten angegangen werden kann. Die Praxis und Techniken der lokalen Bevölkerung ist ebenso zu beachten. Andererseits erkennt er richtig und betont dies ausdrücklich, dass der Denkfehler im Begriff der Entwicklung liegt, und nicht in der Verschiebung von 'Hilfe' zu 'Zusammenarbeit'. Er enttarnt den Begriff als "Werde so wie wir" (129) und zeigt so die rassistischen Grundlagen der E.-Zusammenarbeit auf, die eben immer auf der wie auch immer bewussten Überzeugung basiert, dass man es als fortschrittlichere Menschen besser wüsste.
Der Autor hat sich von der aktiven Entwicklungshilfe zum Journalismus gewendet. Dieser Arbeit lag seiner Meinung nach der Vorsatz zugrunde, trotz scharfer Berichterstattung unparteiisch zu bleiben. An dieses journalistische Buch lassen sich keine poetischen oder wissenschaftlichen Kriterien anlegen. Es berichtet und präsentiert auf eindringliche Weise Rechercheergebnisse und Überlegungen zum Verhältnis zwischen dem Westen und Afrika bzw. Mittel- und Südamerika. Es ist unparteiisch, insofern es kritische und weniger kritische Stimmen unkommentiert nebeneinanderstellt und doch parteiisch, indem er sich intensiv mit den rassistischen Strukturen in der Entwicklungshilfe und dem Verhältnis von Afrika und dem Westen etwa im Umgang mit menschlichen Überresten auseinandersetzt. So wurde denn auch artikuliert, dass die Überführung von El Negro nach Botswana wieder einmal vom Westen bestimmt wurde, dass nämlich der Körper nicht so vollständig übergeben wurde, wie es möglich war. Westermann ist akribisch und gibt den Lesern zudem im Anhang seine gesamten Quellen an, so dass der 'Fall' El Negro, zu dessen Herkunft es lediglich 5 Primärquellen gibt, nachvollzogen werden kann.
Das Buch liefert keine klaren Antworten auf die aufgeworfenen Fragen zur Entwicklungshilfe. So muss einschränkend die Wortwahl kritisiert werden, wenn etwa 'Drama', 'Schicksal' oder 'Elend' ohne nachfolgende Relativierung mit Afrika im selben Atemzug genannt werden, auch wenn sie als Ausgangformulierungen kritischer Selbstbefragung fungieren. Die zahlreichen Verweise auf Literatur und Ereignisse, die der Autor den Lesern mitgibt, lädt in jedem Fall zu dieser Auseinandersetzung ein. Vor allem für die Entwicklungshilfe bleibt die Frage der kamerunischen Autorin Axelle Kabou aktuell: "Et si l'Afrique refusait le développement?" (129).
Westerman, Frank (2007): El Negro. Eine verstörende Begegnung. Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag, 240 S.
Samstag, 26. Januar 2008
Francois Ewald: Der Vorsorgestaat (1986)
Zwar steht es nicht exakt so in Francois Ewalds „Der Vorsorgestaat“ geschrieben - die These von oben zwängt sich aber auf. Denn was Ewald ausdrücklich sagt, ist, dass mit der Entstehung des modernen Sozialstaats der Weg frei wurde, die gesamte Existenz des Staatsbürgers zu überwachen. Die ersten Indizien dafür findet Ewald in der Reformzeit des Sozialstaats, mit der jegliche Berufs-, Lebens-, Krankheits-, und Sicherheitsrisiken selbst bei Abwesenheit eine latente Gefahr wurden, so dass Bürger und Staat zur umfassenden Vorsorge verpflichtet werden mussten. Bis heute überträgt sich diese Logik der Vorsorgepflicht in alle Bereiche des politischen und gesellschaftlichen Lebens.
Doch fangen wir von vorne an: Ewald gräbt sich in Foucault’scher Manier durch die archäologischen Schichten des Haftungsrecht bei Arbeitsunfällen. Große Teile des Buches drehen sich – fast ermüdend – um die parlamentarischen Debatten sowie die juristische Auslegung der ersten Arbeitsgesetze in Frankreich des 19. Jahrhunderts. Jedoch genau in dieser Reformpolitik deckt Ewald eine neue sozialstaatliche Logik auf, die das Buch letztendlich doch zum Krimi werden lässt.
Warum gibt es eine Reform der Sozialgesetzgebung?
Die Antwort ist zunächst alter Tobak: Arbeitsunfälle entwickeln sich zu im 19. Jahrhundert zum zentralen Problem der neuen Industriegesellschaft. Die sozialen Spannungen aufgrund mangelnder (sozialer und physischer) Sicherheit gefährden die gesellschaftliche Ordnung. Anderseits profitiert der Staat volkswirtschaftlich vom neuen Unternehmertum, das diese soziale Spannung hervorruft – ein Dilemma. Ein weiterer Grund für das Dilemma ist, dass das bisherige liberale, also zivilrechtliche Haftungsrecht ein nur ungenügendes Instrument zur Aufhebung des Dilemmas darstellt. Denn nach der liberalen Logik kann nur dort eine Übernahme von Schadenslasten stattfinden, wo dies durch das Verschulden eines anderen nachweislich und direkt verursacht ist.
Jedoch lässt die moderne Industriegesellschaft eine kausale Verkopplung von Schuld und Unfall kaum noch zu (Stichwort Rhizom). Im besten Fall gibt es eine nachvollziehbare Kausalkette, die aufgrund ihrer Länge einer exakten Schadensregelung im Wege steht. Wichtig ist auch, dass der Staat unternehmerisches Handeln nicht durch Haftungsrisiko abwürgen will. Das Dilemma – soziale Missstände einerseits und der volkswirtschaftliche Nutzen durchs neue Unternehmertum anderseits – ist deswegen Kern- und Ausgangspunkt der Reformpolitik dieser Zeit. Die Reform soll den Erhalt des Unternehmertums sowie das Ende der sozialen Missstände garantieren.
Was hat sich mit der Reform geändert?
Zunächst muss hervorgehoben werden, dass die Reform des belanglos klingenden Haftungsrecht in seiner Tragweite bis auf den Gesellschaftsvertrag zurückwirkte, denn Haftung wird bei Ewald nachvollziehbar als „vollkommenster Regulator menschlichen Handelns“ betrachtet.
Bis zur Entwicklung einer neuen Sozialgesetzgebung war es die tragend Idee des Gesellschaftsvertrags - zum Beispiel bei Rousseau -, dass es kein anderes Recht als das auf einem Vertrag basierende Recht geben kann. Es handelt sich hier um die liberale Idee, das die Sphäre des Rechts begrenzt bleiben muss. Wer einen Vertrag bricht, kann bestraft werden – und zwar durch entsprechende Sanktion in Folge einer schuldhaften Handlung.
Mit dem neuen Solidaritätsvertrag ändert sich diese Situation: Die Industrie gilt es einerseits von einer Flut an Schadensregelungen zu schützen. Anderseits muss die soziale Frage der Arbeitsunfälle geregelt werden. Die Antwort darauf ist, dass die negativen Folgen der Industrialisierung durch eine Sozialpflichtversicherung auf die gesamte Gesellschaft abwälzt werden. Dieses Prinzip trägt der neuen Situation Rechnung, da Schuldfragen kaum noch monokausal zuweisbar sind. Schadenursache und Entschädigung werden voneinander abgekoppelt. Wer unter der neuen Logik zum Beispiel arbeitslos wird (oder einen selbst-/unverschuldeten Arbeitsunfall hat, etc), hat ein Recht auf Entschädigung – ganz gleich, ob ein Schuldiger für das persönliche Maleur gefunden wird. Macht zunächst auch Sinn: Denn wer will sich schon anmaßen zu beurteilen, ob die Arbeitslosigkeit von schlechten Schulleistungen, schlechten Arbeitgebern, schlechter Ausbildung oder gar allen Faktoren zusammen verursacht wurde. Dieses Recht auf Entschädigung betrachtet Ewald als „eines der bedeutsamsten Ereignisse der Zeitgeschichte“ – einhergehend verortet er an dieser Stelle übrigens auch das Ende der Moral, der Nächstenliebe und des bewussten Akts der Wohltätigkeit. Wohltätigkeit wird von da ab mechanisiert.
Was aber wirklich von Bedeutsamkeit ist – und die Brücke in unserer Zeit schlägt – ist die folgende Argumentation: Aufgrund der neuen Sozialversicherungspraxis baut die staatliche Praxis auf dem Versicherungsprinzip auf; der Staat wird selbst zum Versicherer. Der entscheidende Unterschied zum liberalen Versicherungsprinzip ist aber, dass die staatliche Versicherung zur Pflicht für alle wird. Problem dieser neuen Konstellation ist, dass nun die Möglichkeit besteht, dass der Faule auf Kosten des Strebsamen, der Draufgänger auf Kosten des Vorsichtigen oder der Raucher auf Kosten des Nichtrauchers von der Gesellschaft entschädigt wird. Nämlich dann, wenn der Faule arbeitslos wird und Arbeitslosengeld erhält, oder der Draufgänger sich verletzt und behandelt wird oder der Raucher krank und mühsam am Leben erhalten wird. Die sozialen Kosten des Versicherungsstaats drohen jederzeit außer Kontrolle zu geraten.
Um diese Gefahr zu vermeiden, nimmt sich der Staat das Recht heraus, nicht nur Sozialrechte zu garantieren, sondern auch Verpflichtungen dem Bürger und Versicherungsnehmer aufzuerlegen: „Wenn der Bürger aufgrund des Solidaritätsvertrags ein Recht auf Sicherheit erwirbt, muss die Gesellschaft das entsprechende Recht haben, ihn auch gegen seinen Willen zu eigenen Vorsorgeleistungen zu verpflichten.“ (Ewald, S.426) Nur anhand dieser Überlegung ist zu verstehen, warum sich ein Staat anmaßen kann, den Bürger von der Geburt bis zu seinem Tod zu verwalten: Der Bürger hat sich daher jederzeit von einem Bürokratenapparat registrieren zu lassen, der Raucher wird möglichst früh auf die Risiken hingewiesen und aus dem öffentlichen Raum verbannt, der von Arbeitslosigkeit gefährdete wird zum lebenslangen Lernen verdonnert. Wo bisher das Instrument der Sanktion im liberalen Vertragsrecht stand (Strafe bei Vertragsbruch), tritt nun beim Sozialversicherungsstaat das Prinzip der Prävention. Es gilt, das soziale Übel so früh wie möglich zu erkennen und dagegen vorzubeugen. Aus diesem Verständnis heraus ist es ebenfalls möglich, der staatlichen Verwaltung das Recht zuzusprechen, ins Leben jedes einzelnen einzudringen, es zu kontrollieren und zu modifizieren. Es herrscht „allgemeine Mobilmachung auch in Friedenszeiten. [...] Die Bekämpfung des sozialen Übels wird zur Aufgabe einer Sozialverteidigung, die die Politik im Inneren als auch den anderen Staaten gegenüber annimmt.“ (Ewald, S.468 f.) Wer sich kurz die Bedeutung dieser Worte auf der Zunge zergehen lässt, kann erahnen, wie radikal dieser Gedanke ist. Wir reden hier schließlich schon von Außenpolitik!
Ewald selber geht soweit zu sagen, dass die Entwicklung zum Fürsorgesstaat die Instrumente des Totalitarismus bereitgehalten hat, auch wenn der Fürsorgestaat ursprünglich als ökologische Utopie und Selbstverwaltungsprogramm gedacht war. Doch abgesehen von den „schlimmsten Ausprägungen des osteuropäischen Sozialismus“ sind die Auswirkungen dieses epistimologischen Bruchs bis heute in Form „verhängnisvoller Politiken“ auch in unseren Gesellschaften noch deutlich wahrzunehmen. Vorratsdatenspeicherung, Folter, Abschuss von Verkehrsflugzeugen à la Schäuble stellt hier nur noch einen kleinen weiteren Schritt in der Logik des Fürsorgestaates dar. Wer das Phänomen als Ganzes erfasst, kommt zur Erkenntnis, dass unser Sozialstaat einerseits das Leben eines jeden als Risikofaktor für das Soziale begreift, anderseits glaubt, jedes einzelne Leben bestmöglich verwerten zu müssen („Ökonomie des Lebens“). Ewald verurteilt den Solidarismus als gescheiterten Versuch, zwei Lehren zu verbinden: nämlich den Liberalismus, der auf bestimmte Probleme seiner Zeit keine Antworten gefunden hat, und den Sozialismus, der als Bedrohung wahrgenommen wurde. Die auf eine Person gemünzte Empörung wie z.B. bei http://schutzvorschaueble.wordpress.com/ wirkt vor dem Hintergrund dieses Buches wahrlich banal und skurril.