Samstag, 26. Januar 2008

Francois Ewald: Der Vorsorgestaat (1986)

Sich über die Innenpolitik von Schäuble aufzuregen, ist eine Sache. Sich über die Grundbedingungen dieser Politik klar zu werden, eine andere. Da Aufregung schon genug herrscht, habe ich mich den Bedingungen zugewendet und dabei Spannendes gefunden: All das, was wir so scharf an der deutscher Innenpolitik kritisieren und lieber dem Sadismus unseres Innenministers zurechnen möchten, liegt in der Wirkungsweise unseres modernen Sozialstaates begründet, so die Arbeitsthese!

Zwar steht es nicht exakt so in Francois Ewalds „Der Vorsorgestaat“ geschrieben - die These von oben zwängt sich aber auf. Denn was Ewald ausdrücklich sagt, ist, dass mit der Entstehung des modernen Sozialstaats der Weg frei wurde, die gesamte Existenz des Staatsbürgers zu überwachen. Die ersten Indizien dafür findet Ewald in der Reformzeit des Sozialstaats, mit der jegliche Berufs-, Lebens-, Krankheits-, und Sicherheitsrisiken selbst bei Abwesenheit eine latente Gefahr wurden, so dass Bürger und Staat zur umfassenden Vorsorge verpflichtet werden mussten. Bis heute überträgt sich diese Logik der Vorsorgepflicht in alle Bereiche des politischen und gesellschaftlichen Lebens.

Doch fangen wir von vorne an: Ewald gräbt sich in Foucault’scher Manier durch die archäologischen Schichten des Haftungsrecht bei Arbeitsunfällen. Große Teile des Buches drehen sich – fast ermüdend – um die parlamentarischen Debatten sowie die juristische Auslegung der ersten Arbeitsgesetze in Frankreich des 19. Jahrhunderts. Jedoch genau in dieser Reformpolitik deckt Ewald eine neue sozialstaatliche Logik auf, die das Buch letztendlich doch zum Krimi werden lässt.


Warum gibt es eine Reform der Sozialgesetzgebung?

Die Antwort ist zunächst alter Tobak: Arbeitsunfälle entwickeln sich zu im 19. Jahrhundert zum zentralen Problem der neuen Industriegesellschaft. Die sozialen Spannungen aufgrund mangelnder (sozialer und physischer) Sicherheit gefährden die gesellschaftliche Ordnung. Anderseits profitiert der Staat volkswirtschaftlich vom neuen Unternehmertum, das diese soziale Spannung hervorruft – ein Dilemma. Ein weiterer Grund für das Dilemma ist, dass das bisherige liberale, also zivilrechtliche Haftungsrecht ein nur ungenügendes Instrument zur Aufhebung des Dilemmas darstellt. Denn nach der liberalen Logik kann nur dort eine Übernahme von Schadenslasten stattfinden, wo dies durch das Verschulden eines anderen nachweislich und direkt verursacht ist.

Jedoch lässt die moderne Industriegesellschaft eine kausale Verkopplung von Schuld und Unfall kaum noch zu (Stichwort Rhizom). Im besten Fall gibt es eine nachvollziehbare Kausalkette, die aufgrund ihrer Länge einer exakten Schadensregelung im Wege steht. Wichtig ist auch, dass der Staat unternehmerisches Handeln nicht durch Haftungsrisiko abwürgen will. Das Dilemma – soziale Missstände einerseits und der volkswirtschaftliche Nutzen durchs neue Unternehmertum anderseits – ist deswegen Kern- und Ausgangspunkt der Reformpolitik dieser Zeit. Die Reform soll den Erhalt des Unternehmertums sowie das Ende der sozialen Missstände garantieren.


Was hat sich mit der Reform geändert?

Zunächst muss hervorgehoben werden, dass die Reform des belanglos klingenden Haftungsrecht in seiner Tragweite bis auf den Gesellschaftsvertrag zurückwirkte, denn Haftung wird bei Ewald nachvollziehbar als „vollkommenster Regulator menschlichen Handelns“ betrachtet.

Bis zur Entwicklung einer neuen Sozialgesetzgebung war es die tragend Idee des Gesellschaftsvertrags - zum Beispiel bei Rousseau -, dass es kein anderes Recht als das auf einem Vertrag basierende Recht geben kann. Es handelt sich hier um die liberale Idee, das die Sphäre des Rechts begrenzt bleiben muss. Wer einen Vertrag bricht, kann bestraft werden – und zwar durch entsprechende Sanktion in Folge einer schuldhaften Handlung.

Mit dem neuen Solidaritätsvertrag ändert sich diese Situation: Die Industrie gilt es einerseits von einer Flut an Schadensregelungen zu schützen. Anderseits muss die soziale Frage der Arbeitsunfälle geregelt werden. Die Antwort darauf ist, dass die negativen Folgen der Industrialisierung durch eine Sozialpflichtversicherung auf die gesamte Gesellschaft abwälzt werden. Dieses Prinzip trägt der neuen Situation Rechnung, da Schuldfragen kaum noch monokausal zuweisbar sind. Schadenursache und Entschädigung werden voneinander abgekoppelt. Wer unter der neuen Logik zum Beispiel arbeitslos wird (oder einen selbst-/unverschuldeten Arbeitsunfall hat, etc), hat ein Recht auf Entschädigung – ganz gleich, ob ein Schuldiger für das persönliche Maleur gefunden wird. Macht zunächst auch Sinn: Denn wer will sich schon anmaßen zu beurteilen, ob die Arbeitslosigkeit von schlechten Schulleistungen, schlechten Arbeitgebern, schlechter Ausbildung oder gar allen Faktoren zusammen verursacht wurde. Dieses Recht auf Entschädigung betrachtet Ewald als „eines der bedeutsamsten Ereignisse der Zeitgeschichte“ – einhergehend verortet er an dieser Stelle übrigens auch das Ende der Moral, der Nächstenliebe und des bewussten Akts der Wohltätigkeit. Wohltätigkeit wird von da ab mechanisiert.

Was aber wirklich von Bedeutsamkeit ist – und die Brücke in unserer Zeit schlägt – ist die folgende Argumentation: Aufgrund der neuen Sozialversicherungspraxis baut die staatliche Praxis auf dem Versicherungsprinzip auf; der Staat wird selbst zum Versicherer. Der entscheidende Unterschied zum liberalen Versicherungsprinzip ist aber, dass die staatliche Versicherung zur Pflicht für alle wird. Problem dieser neuen Konstellation ist, dass nun die Möglichkeit besteht, dass der Faule auf Kosten des Strebsamen, der Draufgänger auf Kosten des Vorsichtigen oder der Raucher auf Kosten des Nichtrauchers von der Gesellschaft entschädigt wird. Nämlich dann, wenn der Faule arbeitslos wird und Arbeitslosengeld erhält, oder der Draufgänger sich verletzt und behandelt wird oder der Raucher krank und mühsam am Leben erhalten wird. Die sozialen Kosten des Versicherungsstaats drohen jederzeit außer Kontrolle zu geraten.

Um diese Gefahr zu vermeiden, nimmt sich der Staat das Recht heraus, nicht nur Sozialrechte zu garantieren, sondern auch Verpflichtungen dem Bürger und Versicherungsnehmer aufzuerlegen: „Wenn der Bürger aufgrund des Solidaritätsvertrags ein Recht auf Sicherheit erwirbt, muss die Gesellschaft das entsprechende Recht haben, ihn auch gegen seinen Willen zu eigenen Vorsorgeleistungen zu verpflichten.“ (Ewald, S.426) Nur anhand dieser Überlegung ist zu verstehen, warum sich ein Staat anmaßen kann, den Bürger von der Geburt bis zu seinem Tod zu verwalten: Der Bürger hat sich daher jederzeit von einem Bürokratenapparat registrieren zu lassen, der Raucher wird möglichst früh auf die Risiken hingewiesen und aus dem öffentlichen Raum verbannt, der von Arbeitslosigkeit gefährdete wird zum lebenslangen Lernen verdonnert. Wo bisher das Instrument der Sanktion im liberalen Vertragsrecht stand (Strafe bei Vertragsbruch), tritt nun beim Sozialversicherungsstaat das Prinzip der Prävention. Es gilt, das soziale Übel so früh wie möglich zu erkennen und dagegen vorzubeugen. Aus diesem Verständnis heraus ist es ebenfalls möglich, der staatlichen Verwaltung das Recht zuzusprechen, ins Leben jedes einzelnen einzudringen, es zu kontrollieren und zu modifizieren. Es herrscht „allgemeine Mobilmachung auch in Friedenszeiten. [...] Die Bekämpfung des sozialen Übels wird zur Aufgabe einer Sozialverteidigung, die die Politik im Inneren als auch den anderen Staaten gegenüber annimmt.“ (Ewald, S.468 f.) Wer sich kurz die Bedeutung dieser Worte auf der Zunge zergehen lässt, kann erahnen, wie radikal dieser Gedanke ist. Wir reden hier schließlich schon von Außenpolitik!

Ewald selber geht soweit zu sagen, dass die Entwicklung zum Fürsorgesstaat die Instrumente des Totalitarismus bereitgehalten hat, auch wenn der Fürsorgestaat ursprünglich als ökologische Utopie und Selbstverwaltungsprogramm gedacht war. Doch abgesehen von den „schlimmsten Ausprägungen des osteuropäischen Sozialismus“ sind die Auswirkungen dieses epistimologischen Bruchs bis heute in Form „verhängnisvoller Politiken“ auch in unseren Gesellschaften noch deutlich wahrzunehmen. Vorratsdatenspeicherung, Folter, Abschuss von Verkehrsflugzeugen à la Schäuble stellt hier nur noch einen kleinen weiteren Schritt in der Logik des Fürsorgestaates dar. Wer das Phänomen als Ganzes erfasst, kommt zur Erkenntnis, dass unser Sozialstaat einerseits das Leben eines jeden als Risikofaktor für das Soziale begreift, anderseits glaubt, jedes einzelne Leben bestmöglich verwerten zu müssen („Ökonomie des Lebens“). Ewald verurteilt den Solidarismus als gescheiterten Versuch, zwei Lehren zu verbinden: nämlich den Liberalismus, der auf bestimmte Probleme seiner Zeit keine Antworten gefunden hat, und den Sozialismus, der als Bedrohung wahrgenommen wurde. Die auf eine Person gemünzte Empörung wie z.B. bei http://schutzvorschaueble.wordpress.com/ wirkt vor dem Hintergrund dieses Buches wahrlich banal und skurril.

22 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Schöne Anmerkungen zu dem Ewald-Buch. Ich habe es mir gleich antiquarisch besorgt. Danke
Sebastian

Anonym hat gesagt…

Ewalds Buch stammt aus einer Zeit, in der das bundesdeutsche Kapital nur zu gerne auf den Sozialstaat verzichtet hätte, was aber aufgrund der Systemkonkurrenz nicht möglich gewesen wäre. Es liest sich wie das Plädoyer eines aufgebrachten Kleinkapitalisten, den es ankotzt paritätisch in die Sozialkassen einzuzahlen. Offenbar hat er auch den Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital nicht begriffen. Nur ein Hornochse kann dabei von "Dilemma" sprechen, denn der Widerspruch ist nicht versöhnbar, deswegen musste der Versuch "zwei Lehren zu verbinden" auch scheitern.

Anonym hat gesagt…

Das Buch von Ewald ist großartig. Dem Foucault Schueler Ewald ähnliches vorzuwerfen, wie Roy es tut, zeugt von intellektueller Unreife.

Christian hat gesagt…

Lieber Roy,

das Dilemma, das sich in Ewalds Arbeit zeigt, ist leider nicht so leicht zu lösen - und schon gar nicht, indem du so wissend "den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit" hinwirfst.

das verstörende an Ewald - ähnlich wie eben bei Foucault - ist wohl, dass durch eine detailreiche Beschreibung der (Regierungs-)Rationaliäten ein Unbehagen einstellt: die Praxis (der Vorsorge; sowie der therapeutischen Gefängnisse, der Alten- und Krankenpflege, etc.) wird durch eben diese Art der Beschreibung in ihrer Ambivalenz deutlich. Wir spüren ihre diskursive Mächtigkeit (da wir ad hoc nicht so schnell eine bessere Lösung vorschlagen können), und gleichzeitig spüren wir ihren Herrschaftscharakter -- es ist gewissermaßen ein Akt der Bewusstmachung der Ambivalenz.

Diese Art zu Forschen und zu Schreiben halte ich nach wie vor als eine der stärksten sowie zeitgemäßen Formen kritischer-theoretischer Praxis, das sich nicht in Vorgefertigte Kritik-Schablonen (und den damit oft einhergehenden Moralismen) reinpressen lässt.

Ein großes Buch!!

Christian

Anonym hat gesagt…

Lieber Christian,

ich habe jetzt Ewalds Schinken einmal ganz durch. Und ich muss sagen, dass ich seine Kritik am Liberalismus nicht ganz verstehen kann. Denn letztlich führt er ja selbst an, dass es Patronage gab und Privatversicherung, die letztlich ja auch von 1898 die Unfallproblematiken gelöst hatten. Inwiefern das liberale Paradigma hier versagt haben soll, ist mir nicht klar. Es wurde abgewählt, sicher. Aber das sagt ja noch nicht viel aus. (Vielleicht wollen wir darüber in Email-Kontakt kommen? Dann würde ich meine Gedanken auch noch ein wenig ausführen.)

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